
Abdoldjavad Falaturi
Die Frage nach Toleranz ist unmittelbar mit der Frage nach Gewalt
verbunden. Das, was man in der Geschichte der Religionen erlebt hat, ist
leider mehr Ausdruck der Gewalt, gleichgültig, ob es sich um die
Geschichte der Muslime, der Christen oder auch der Juden handelt, und
zwar jeweils in Namen der Religion. Dabei werden die Religionen – und
das erleben wir heute noch – instrumentalisiert zur Erreichung von
Zielen, die mit der Religion überhaupt nichts zu tun haben. Das
bedeutet, dass wir nicht nur die Toleranzfrage, sondern auch die damit
verbundenen Gewalterscheinungen zu behandeln haben. Die folgende
Einteilung ist hier vorgesehen:
- Toleranz und Intoleranz zur Zeit des Propheten Muhammad (s.a.).
- Toleranz und Intoleranz in der islamischen Geschichte.
- Toleranz und Intoleranz zur Zeit des Propheten Muhammad (610-632)
Um die Idee der Toleranz in der islamischen Lehre und Wirklichkeit
bei der Entstehung des Islam zu erörtern, ist es notwendig, zunächst
ganz kurz die Zeit und die Situation, in der Muhammad (s.a.) sich
befand, zu schildern.
Der Prophet Muhammad (s.a.) wurde 570 n.u.Z. geboren und starb 632
n.u.Z. In diesen Jahrzehnten bis 628 war die damalige Welt bestimmt
durch Kriege zwischen zwei Großmächten: Iran und Byzanz. Schon seit
längerer Zeit galt die arabische Halbinsel als eine Art Kolonie dieser
beiden Mächte. Wenn Iran über Byzanz siegte, hatten die Iraner die
größere Macht über Arabien, und im umgekehrten Fall übte Byzanz die
größere Macht über Arabien aus. Das bedeutet, dass die arabische
Halbinsel und die arabischen Völker sich stets in einem kolonialisierten
Zustand befanden. Wir können uns vorstellen, dass der Wunsch nach einer
Befreiung von dieser Unterdrückung nicht gering gewesen ist. Dies in
die Tat umzusetzen, war unter den bestehenden Verhältnissen fast
undenkbar. Die Gemeinschaft des arabischen Volkes war nämlich von einer
tribalen Struktur bestimmt, deren Einzelstämme derart in Stammesfehden
verwickelt waren, dass dies die Fremdherrschaft nur begünstigen konnte.
Die Geschichte der arabischen Halbinsel zu jener Zeit bestand also aus
einer ständigen Auseinandersetzung verschiedener arabischer Völker,
Stämme und Großfamilien. Nirgends gab es Frieden, wie wir ihn uns heute
wünschen und wie er auch damals erhofft wurde. Kriegerische
Auseinandersetzungen gehörten zum Alltag der damaligen tribalen
Lebensweise. Soweit die groben Umrisse der gesellschaftlichen und
politischen Verhältnisse der Araber in der Zeit, in der der Islam in
Erscheinung trat.
Was die religiösen Verhältnisse betrifft, so handelte es sich im
Großen und Ganzen um zweierlei Arten religiöser Verhaltensweisen: einer
monotheistischen und einer polytheistischen. Zu den Monotheisten
gehörten die Juden, die Christen und Vertreter des Zoroastrismus (als
einer iranischen Religion), sowie Vertreter einer religiösen Richtung,
die man später als die Überreste einer abrahamitischen Religion
bezeichnete. Die arabischen Stämme, für die die Botschaft Muhammads in
erster Linie galt, waren hauptsächlich Polytheisten. Muhammad (s.a.)
selbst ist in einer angesehenen Familie geboren, die ihrerseits zu einem
sehr einflussreichen Stamm gehörte. Diese Großfamilie Muhammads hatte
neben ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Macht
auch eine religiöse Aufgabe, die meines Erachtens für den Lebenslauf
Muhammads von entscheidender Bedeutung gewesen sein kann. Die heutige
Stadt Mekka war nämlich auch in jener Zeit ein Wallfahrtsort für
arabische Pilger. Die Gebetshäuser von Mekka waren voll von Götzen, die
über einzelne Stammesgötter hinaus von allen Arabern angebetet und
verehrt wurden.
Die Araber, beziehungsweise die Bewohner der arabischen Halbinsel,
kamen jährlich zu einer bestimmten Zeit zusammen; hauptsächlich aus
wirtschaftlichen, aber auch aus religiösen Gründen. Diese Leute, die zur
Wallfahrt kamen, mussten versorgt werden. Ihre Versorgung lag in den
Händen der Familie Muhammads und galt als eine große und ehrenhafte
religiöse Funktion. Diese Funktion befand sich, als Muhammad (s.a.)
geboren wurde, in den Händen seines Großvaters und, nachdem dieser
gestorben war, in den Händen seines Onkels. Diese beiden haben Muhammad
(s.a.) als Vormund aufgezogen. Ich erwähne dies alles und hebe es
hervor, um zu zeigen, wie Muhammad (s.a.) von Kind auf an mit den
religiösen Angelegenheiten und religiösen Fragen vertraut, ja sogar
direkt von ihnen umgeben war.
1.1. Die islamische Lehre und ihr Verhältnis zu den Andersgläubigen
Im Jahre 610 verkündete Muhammad (s.a.) eine Offenbarung, die
hauptsächlich von zwei klaren Aussagen getragen war: Ablehnung der
Götzen und Anbetung des einzigen Schöpfergottes. Diese Verkündigung
signalisierte zwei religiöse Haltungen. Eine Haltung gegenüber den
Götzenanbetern und eine Haltung gegenüber den Monotheisten. Im Grunde
trat Muhammad (s.a.) als Verfechter des Monotheismus auf, und zwar
gegenüber den Polytheisten. Es gab zwei große christliche Gemeinschaften
auf der arabischen Halbinsel: die Ghassaniden im Norden und die
Nağraniden im Süden. Die Ghassaniden, die mehr mit Byzanz in Verbindung
standen, waren Monophysiten. Die Nağraniden im südlichen Bereich
hingegen waren zum großen Teil Nestorianer und standen somit mehr mit
dem Iran in Verbindung. Die Sprache der Liturgie und der Kirche war bei
beiden Syrisch, eine nichtarabische Sprache. Die Großmächte Byzanz und
Iran spielten jeweils ihre christlichen Verbündeten zu ihren eigenen
Gunsten gegen ihre Rivalen aus. Die Juden befanden sich hauptsächlich in
Medina und der nahen Umgebung von Medina, aber auch in Südarabien.
Muhammad (s.a.) machte von Beginn an keinen Hehl daraus, dass er
denjenigen Monotheismus vertritt, der durch Abraham, Moses und Jesus
verkündet worden war. Zur Bestätigung seiner Botschaft bezieht er sich
schon im zweiten Jahr seiner Verkündigung auf Abraham und Moses. „Dies“
(die Verkündigung über Gott, über das Gebet und über das weitere Leben
nach dem Tode) „stand wahrlich in den ersten Schriften, den Schriften
Abrahams und Moses‘.“ (Koran, Sure 87,18 f.) De facto war es das
Anliegen Muhammads (s.a.), die abrahamitisch-mosaische Lehre und später
auch die Lehre Jesu zu verbreiten, und zwar gegenüber den Polytheisten.
Im Großen und Ganzen hatte Muhammad (s.a.) es also mit zwei großen
religiösen Gruppierungen zu tun: mit den Polytheisten und den
Monotheisten. Hier stellt sich gerade die Frage der Toleranz den beiden
Gruppierungen gegenüber. Die Frage lautet genauer formuliert: Wie haben
die Polytheisten und wie die Monotheisten auf diese Herausforderung
Muhammads (s.a.) reagiert und wie hat er sich den jeweiligen
Gruppen gegenüber verhalten?
Um dies zu beantworten, ist es notwendig, zunächst den Begriff der
Toleranz, mit dem wir es hier hauptsächlich zu tun haben, zu erörtern.
Es ist ja bekannt, dass der Begriff „Toleranz“ in der abendländischen
Tradition nicht sehr alt ist. Er ist ein Produkt der Aufklärung und
entstanden als eine Reaktion gegen die religiösen Kämpfe und Verfolgung
der Andersgläubigen. Toleranz bedeutet daher, Andersgläubige und
Andersgesinnte nicht wegen ihres Glaubens und ihrer Gesinnung zu
verfolgen, diese nicht zur Abkehr von ihrem Glauben und von ihrer
Meinung zu zwingen, sie auf alle Fälle am Leben zu lassen und zu dulden.
Der arabische Ausdruck für Toleranz ist „tasamuh“. Dieses Wort und
seine Wurzel kommen in Koran und Sunna sowie auch in der islamischen
Tradition nicht vor. Es geht jedoch nicht um dieses spezielle Wort,
sondern vielmehr um das Phänomen Toleranz, dass sich an der
Verhaltensweise Muhammads gegenüber den beiden genannten Gruppierungen
messen lässt.
Die Polytheisten hat Muhammad (s.a.) – nachdem er immer wieder den
Monotheismus gepredigt hatte – nach einem Prinzip behandelt, das in
einigen Koranstellen seinen Ausdruck findet. Gerichtet an die
Polytheisten heißt es nämlich in der Sure Al-Baqara (2:256): „Es gibt
keinen Zwang im Glauben (in der Religion). Der richtige Weg ist nun klar
erkennbar geworden gegenüber dem unrichtigen.“ Ähnlich heißt es in der
Sure al-Kafirun (109:1-6): „Oh, ihr Ungläubigen, ich bete nicht an, was
ihr anbetet, noch betet ihr das an, was ich anbete. Und ich bin nicht
der Anbeter dessen, was ihr angebetet habt, noch seid ihr Anbeter
dessen, was ich anbete. Euch euer Glaube (Religion) und mir mein Glaube
(meine Religion).“ Das daraus gewonnene Prinzip lautet: zuerst
Aufklärung der Menschen. Wenn sie die Religion aber nicht annehmen, sie
nicht dazu zu zwingen, sie am Leben zu lassen, sie in Ruhe zu lassen,
ihnen ihre Freiheit zu gewähren. Dass der Koran in seiner Argumentation
selbst den Polytheisten eine gewisse freie Entscheidungskraft lässt,
sieht man an der Äußerung, dass der Unterschied zwischen dem richtigen
und dem falschen Weg, dem Eingottglauben und dem Glauben an mehrere
Götter, deutlich erkennbar geworden ist. Dass Muhammad (s.a.) seine
Haltung gegenüber den Polytheisten bis zum Schluss nicht geändert hat,
beweist auch eine andere historische Tatsache.
Nachdem er nämlich Muhammad (s.a.) im Jahre 630, zwei Jahre vor
seinem Tode, in seine Heimatstadt Mekka eingezogen war, aus der er etwa
neun Jahre zuvor ausgewandert war, hat er zwar alle dort vorhandenen
Götzenbilder zerstört, aber die Polytheisten selbst am Leben gelassen,
obwohl er praktisch die Macht über sie hatte. Kein Polytheist ist wegen
seines Glaubens getötet worden. Die Polytheisten mussten nur
versprechen, nichts Feindseliges gegen die Muslime zu unternehmen. Diese
Haltung Muhammads gegenüber den Polytheisten beruht auf der
Voraussetzung, dass diese die Muslime nicht angreifen und gehört zu der
Art Toleranz, die wir als Ergebnis der Aufklärung kennen: die
Andersgläubigen leben lassen und nicht wegen der Andersartigkeit ihres
Glaubens verfolgen. Dies bedeutet allerdings keine Anerkennung ihres
Glaubens. Muhammad (s.a.) akzeptiert die Götzen und Götzenanbeterei
nicht. Darüber hat er wiederholt sein Missfallen zum Ausdruck gebracht.
Als sie aber davon nicht abkamen, ließ er sie weiterleben.
1.2. Muhammad (s.a.) und die Monotheisten
Sein Verhältnis zum Monotheismus war ganz anders. Ich habe bereits
darauf hingewiesen, dass Muhammad (s.a.) von Anfang an der Überzeugung
gewesen ist, dass seine Lehre im Hinblick auf den Monotheismus nichts
anderes beinhaltet als die abrahamitisch-mosaische Lehre und auch die
Lehre von Jesus. Die Lehre von Abraham, Moses und Jesus beschreibt
Muhammad (s.a.) als die Anbetung eines einzigen Gottes, eine Anbetung,
die in dem arabischen Wort „Islam“ ihren Ausdruck findet. Der Inhalt der
abrahamitischen Religionen wird im Islam überzeugend zusammen gefasst.
Fernerhin war Abraham der Prototyp eines Muslims. Abraham wird im Koran
wiederholt als erster und bester Muslim exemplarisch hervorgehoben. Auch
Moses und seine Anhänger und Jesus und seine Jünger waren alle in
diesem Sinne Muslime. Das gilt auch für all diejenigen, die den einzigen
Gott anbeten und sich in diesem Sinne ihm ergeben. Ergebung bedeutet
keinesfalls eine blinde Unterwerfung unter eine willkürliche Macht oder
eine Erniedrigung, die ohne Selbstaufgabe nicht denkbar ist.
Die Ergebung gegenüber einem einzigen Gott bedeutet vielmehr, sich
ihm als barmherzigem, liebendem Fürsorger freiwillig anzuvertrauen.
Somit erkennt Muhammad (s.a.) den Monotheismus und die Monotheisten an.
Die Anerkennung der Monotheisten und der monotheistischen Religionen ist
ein Bestandteil des muslimischen Glaubens. Eine so geartete Lehre wie
die des Koran toleriert nicht nur die Monotheisten, sondern erkennt
darüber hinaus ihre religiöse Haltung der Gottergebenheit als Islam an,
sofern sie nur den einen Gott anbeten. Die Anerkennung der
monotheistischen Religionen war, ist und bleibt ein Bestandteil der
Lehre des Koran. Bereits in der mekkanischen Zeit (610—621 n.u.Z.) kommt
die Einstellung Muhammads zu den Schriftbesitzern (hier Juden und
Christen) deutlich zum Ausdruck: „Wir glauben an das, was zu uns
(Muhammad und seinen Gefährten) herabgesandt wurde, und an das, was zu
euch (Schriftbesitzer) herabgesandt wurde.“ (Al-Ankabut | 29:43).
Entscheidend und interessant ist die Begründung für diese Überzeugung.
Sie lautet: „Unser und euer Gott ist einer.“ (Al-Ankabut | 29:46)
Wie wir sehen, ist dies nicht die Toleranz im Sinne der Aufklärung.
Dies ist vielmehr ein eindeutiges Glaubensbekenntnis, und zwar kein
einfaches, naives, das aus einer Art taktischer Überlegung oder aus
einem rein emotionalen Enthusiasmus entstanden ist. Diese Art
Glaubensbekenntnis setzt vielmehr eine tiefgreifende, bemerkenswerte
Überzeugung voraus. Grundsätzlich geht der Koran nämlich von der
Überzeugung aus, dass es nur eine einzige Möglichkeit der Religiosität
geben kann, sofern es sich um das Verhältnis des Menschen zu einem
einzigen Gott handelt. Diese einzige Möglichkeit der Religiosität ist
die Anbetung dieses einzigen Gottes. Mit anderen Worten: Wenn man Gott
in den Mittelpunkt einer Religion stellt, dann ist die Beziehung
Gott-Mensch oder Mensch-Gott die einzige religiöse Möglichkeit. Aber
auch das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Diese Überzeugung hat
einen zweifachen Hintergrund, einen theoretisch- theologischen und
einen ontologischen.
Beide Gründe werden im Koran deutlich angesprochen: Für den Koran
besteht kein Zweifel daran, dass der Schöpfergott aus seiner
Barmherzigkeit zu den Menschen heraus von Beginn der Erschaffung des
Menschen an, also schon vom ersten Menschen an, den Menschen diesen
einzig möglichen Glauben, nämlich die Anbetung eines einzigen Gottes und
Ausschaltung alles anderen aus dem Anbetungsbereich, anvertraut hat.
Das bedeutet hier abweichend vom christlichen und jüdischen Glauben,
dass der erste Mensch, nachdem er von seinem Fehler durch Reue befreit
wurde, als Prophet, ja sogar als Gesandter fungierte. Die göttliche
Barmherzigkeit konnte nicht zulassen, dass einen Augenblick lang der
Mensch ohne göttliche Rechtleitung bleibt und somit vernachlässigt wird.
Der Inhalt der Lehre, die Adam empfing, war ebenso die Anbetung des
einzigen Gottes, also der Islam. In dieser Überzeugung ist der Koran
völlig konsequent. Er drückt eindeutig die Überzeugung aus, dass alle
Völker eigene Gesandte hatten, und alle Gesandten nur diese Lehre
verkündeten. Gott hat, so die koranische Überzeugung, zu allen Völkern
Gesandte mit dieser einzigen Botschaft geschickt. Die Stärke dieser
Überzeugung veranlasst den Koran, dies als tiefste Verbindung des
Menschen mit Gott über Zeit und Raum hinaus darzustellen. Es geht um das
Phänomen Religion, um das Phänomen Islam und um das Phänomen einer
möglichen Religiosität im Rahmen der Mensch-Gott-Beziehung. Der
Koranvers im Kapitel al-i-Imran (3:19) drückt diese Tatsache aus:
„Wahrlich ist die Religion vor Gott der Islam.“ Der Koran geht hier
keineswegs eklektisch vor, sodass er mehrere Religionen in Betracht zöge
und das Gemeinsame als wahre Religion hinstellte, vielmehr ist das
Gegenteil der Fall. Da diese Gottausgerichtetheit die einzig mögliche
Religiosität ausmacht, bildet sie den Inhalt aller Religionen zu allen
Zeiten und überall, sofern diese gottgläubig sind. Soweit die
theologisch-theoretische Begründung.
Nun möchte ich zum anthropologischen Grund, also zur
psychologisch-ontologischen Begründung übergehen. Auch hier geht der
Koran davon aus, dass Gott die Menschen von Natur aus auf Gott
ausgerichtet hat. Die Gottausgerichtetheit sei der religiöse Kern in
allen Menschen. Mit diesem anthropologischen Kern korrespondiert die
göttliche Botschaft, die stets die Gottausgerichtetheit als einzig
mögliche Religiosität verkündet hat. Der Islam als Haltung bildet die
psychisch-ontologische Basis in der Existenz des Menschen. Hier
unterscheidet sich der Islam von der Vorstellung und Überzeugung, die
die christliche Theorie vom Menschen hat. Somit haben wir es mit zwei
verschiedenen Menschenbildern zu tun, einem christlichen und einem
islamischen, worauf wir hier aber nicht eingehen können. Hier geht es
lediglich darum zu zeigen, wie und aus welchem Grunde Muhammad (s.a.)
sein Verhältnis zu den Schriftbesitzern verstanden und aufgebaut hat.
Die Anerkennung des Monotheismus, also die Anerkennung des
Eingottglaubens bei den Juden und Christen, bildet einen Bestandteil der
koranischen Lehre.
Diese Lehre steht und fällt von Anfang bis Ende mit dieser
Überzeugung. Es ist daher purer Unsinn, die Verhaltensweise Muhammads
den Juden und Christen gegenüber als Taktik zu bezeichnen. Für diese
Verhaltensweise des Koran oder der Person Muhammads zu den Juden und
Christen reicht das Wort „Toleranz“ nicht mehr aus. In dem Wort
„Toleranz“ steckt die Andersartigkeit, sogar die Gegensätzlichkeit, die
man aber aus humanitären Gründen akzeptiert und existieren lässt, wie
Muhammad (s.a.) es diesbezüglich am Beispiel der Polytheisten gezeigt
hat. Sein Verhalten jedoch wurde von der Idee der Anerkennung getragen,
wie sie im folgenden Koranvers (aber auch an anderen Stellen) zum
Ausdruck kommt: „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden
sind, und die Christen und die Sabier, all die, die an Gott und an den
Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, erhalten ihren Lohn bei ihrem Herrn,
sie haben nichts zu befürchten, und sie werden nicht traurig sein.“
(al-Baqara | 2:62)
An einer anderen, sehr interessanten Koranstelle, die genauso wie die
oben genannte in der medinensischen Zeit während einer bereits
fortgeschrittenen Gemeindebildung und -festigung, offenbart wurde, sieht
man eindeutig die Dreiergruppierung: die Gruppe der Gläubigen und
Muhammads (s.a.) selbst, die Gruppe der Gesamtheit der Monotheisten
unter Einbeziehung der Zoroastrier und die Gruppe der Polytheisten
(al-Haddsch | 22:17): „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die
Juden sind, und die Sabier und die Christen und die Magier und
diejenigen, die Polytheisten sind – siehe, Gott wird am Tag der
Auferstehung zwischen ihnen entscheiden. Gott ist ja Zeuge über alle
Dinge.“ Sicherlich hat Muhammad (s.a.) es gerne gesehen, wenn Juden und
Christen seine Lehre annahmen und sich in die Reihe der Gläubigen seiner
Lehre begaben. Wenn sie dies aber nicht taten, wie es bei vielen der
Fall war, war die Ablehnung kein Grund für Muhammad (s.a.), den wahren
Kern ihrer Verhaltensweise, also ihre Gottausgerichtetheit,
geringzuschätzen und nicht hervorzuheben. Hier stellt sich unweigerlich
die Frage nach der Gewalt im Islam, denn konsequenterweise muss die
Toleranz den Polytheisten gegenüber und die Anerkennung der Monotheisten
die Gewaltanwendung von Grund auf unmöglich gemacht haben.
1.3. Wie sind die Idee und das Phänomen der Gewalt in der islamischen Lehre und in der islamischen Geschichte zu erklären?
Wie erwähnt, wurde Muhammad (s.a.) ungefähr 570 in Mekka geboren. Mit
seiner Verkündigung begann er 610 in derselben Stadt. Diese erste
Zeitspanne erstreckt sich bis zum Jahre 622, als er nach Medina
auswanderte. Sie wird mekkanische Zeit genannt. Die Zeitspanne von Mitte
622 bis zu Muhammads Tod im Jahre 632 wird die medinensische Zeit
genannt. In der mekkanischen Zeit war weder von Seiten Muhammads noch
von Seiten seiner Anhänger irgendeine Gewaltanwendung zu verzeichnen.
Eher war es umgekehrt. Muhammad (s.a.) und seine Anhänger wurden stets
von den Polytheisten belästigt, verfolgt und in jeder Hinsicht unter
Druck gesetzt. Den Polytheisten aber war es aufgrund der tribalen
Gesetzmäßigkeiten nicht möglich, Muhammad (s.a.) und seine Anhänger zu
vernichten, auch wenn sie dies geplant hatten. Für uns ist hier nur
wichtig zu wissen, dass Gewalt vor allem von Seiten der Gegner Muhammads
und seiner Lehre gegen ihn und die Muslime ausgeübt wurde. Da diese
nicht einmal zum Widerstand angehalten waren, haben sie die Auswanderung
als eine vorübergehende Lösung des Problems gewählt. 615 ließ Muhammad
(s.a.) einen Teil seiner noch bescheidenen Anhängerschaft – 75 Personen –
nach Äthiopien, also in ein christliches Land, auswandern, die bei
dessen christlichem Kaiser Schutz fanden. Auch dies ist ein Akt des
Vertrauens zu den Monotheisten.
Der Druck auf Muhammad (s.a.) und seine wachsende Anhängerschaft
wurde aber tagtäglich größer. Von wem kam eigentlich dieser Druck? Es
ist interessant zu wissen, dass hauptsächlich Männer und Frauen aus
seinem eigenen Stamm, aus seiner nächsten Verwandtschaft die Initiatoren
und auch Vollstrecker dieser Gewaltanwendungen waren. Ihnen galt auch
von Anfang an und in erster Linie die Botschaft Muhammads. Er
kritisierte ihren unrichtigen Glauben an die Götzen und ihre ungerechte
gesellschaftliche Hegemonie. Nur einige wenige mächtige Persönlichkeiten
aus seiner Verwandtschaft wie sein Onkel Abu Talib standen Muhammad
(s.a.) bis zum Schluss bei und schützten ihn vor den vernichtenden
Plänen der anderen. Nach dem Tod seines Onkels und seiner Frau nahmen
die Gewaltanwendungen seiner Gegner zu. Zur gleichen Zeit wurde seine
Auswanderung nach Medina von den Medinensern begehrt. Diese wurde nach
zweijähriger Planung durchgeführt und das rettete ihn und seine Anhänger
vor vollständiger Ausrottung. Der dafür geprägte arabische Ausdruck
lautet hiğra, was „Auswanderung“ und keineswegs „Flucht“ bedeutet.
1.4. Die Muslime in Medina und die Anfänge der Gewaltaktionen
Die Macht und das Ansehen der Gegner Muhammads und ganz besonders
seines eigenen Stammes (Quraisch) beschränkten sich nicht nur auf die
Stadt Mekka, sondern erstreckten sich über die gesamte arabische
Halbinsel, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Die Mekkaner
hatten jedoch auch ihre Rivalen, von denen die größten die Medinenser
waren. Als Muhammad (s.a.) nach Medina kam, entstanden neue Probleme.
Das erste und wichtigste Problem war Muhammad (s.a.), seine Lehre und
seine Anhängerschaft. Das zweite Problem war die offensichtliche Zunahme
der Stärke der Rivalen, nämlich der Medinenser, durch die Annahme der
Religion und die Entstehung einer einheitlichen Kraft. In der Tat kam es
auch so, wie die Mekkaner befürchtet hatten. Sie wollten die Entstehung
einer neuen Macht in Medina mit aller Gewalt verhindern. Sie haben –
und das mit Recht – darin ihren eigenen Untergang erblickt. Ein offener
Krieg gegen die Medinenser war unvermeidlich. Die Kriege wurden von den
Mekkanern, hauptsächlich von den Verwandten Muhammads, angezettelt.
Durch die große Übermacht der Mekkaner wurden die Muslime besiegt,
siegten aber ihrerseits auch. Der Koran berichtet über diese
kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Koranverse, die vom Krieg, von
Schlachten, vom Töten und Getötetwerden reden, sind lediglich
historische Dokumente und Belege für die bereits stattgefundenen
Gewaltakte. Im Gegensatz zu der Zeit, als die Muslime noch in Mekka
waren, verteidigten sich diese in der medinensischen Zeit gegen die
Angriffe der Mekkaner, beziehungsweise mussten sich gegen sie
verteidigen.
Bei den Angriffen der Mekkaner ging es nicht nur um den Sieg, sondern
um die Vernichtung Muhammads, seiner Anhänger und seiner Lehre.
Vielleicht liegt hierin die Einstellung des Islam und der Muslime zur
Gewaltanwendung, die anders ist, als man sie im Christentum von der
Bergpredigt ableitet. Ein Muslim darf in keiner Weise mit der
Gewaltanwendung beginnen. Er hat sich aber gegen Gewalt zur Wehr zu
setzen. Das moralische Prinzip lautet hier – um es auf einen Nenner zu
bringen – „Du darfst die Gewaltanwendung nicht unterstützen“. Eine
passive Haltung gegenüber der Gewaltanwendung bis zur eigenen
Vernichtung bedeutet eine Unterstützung des Gewaltaktes des
Gewalttäters. Daraus entstand ein Prinzip, das paraphrasiert im Koran
den folgenden Ausdruck findet: „Greift nicht an, bevor ihr angegriffen
werdet. Beendet sofort den Gewaltakt, wenn der Feind sich zurückzieht.“
Das war das Prinzip des Kampfes gegen die Polytheisten, aber nicht gegen
alle, sondern nur gegen diejenigen, die als Feind die Vernichtung der
Muslime vornahmen, beziehungsweise mit diesem Ziel den Krieg gegen
Muhammad (s.a.) und seine Anhänger begannen. Jedenfalls wurde damit das
Prinzip der Toleranz den Polytheisten gegenüber nicht gebrochen. Im
Gegenteil: Gerade nach diesem Prinzip wurden sie im Falle ihrer
Unterlegenheit weder getötet noch gezwungen, den Islam anzunehmen. Es
reichte aus, die Schlacht gegen die Muslime zu beenden. Wäre der
Polytheismus ein Grund gewesen, getötet oder gezwungen zu werden, den
Islam anzunehmen, hätten Muhammad (s.a.) und seine Anhänger davon
Gebrauch gemacht.
1.5. Wie ist die Gewaltanwendung gegen Juden und Christen zu erklären?
Nach dem Prinzip der Anerkennung der monotheistischen Religionen
durfte seitens der Muslime keine Gewalt gegen Juden und Christen
angewandt werden. Dennoch berichten die Geschichtsbücher, ja sogar die
islamischen Geschichtsbücher, über gewaltsame Auseinandersetzungen in
der medinensischen Zeit, vor allem gegen die jüdischen Stämme. Wie ist
dies zu erklären? War der Grund dafür ihr Judentum oder ihr Christentum
oder gab es dafür andere Anlässe? Wir wissen, dass Muhammad (s.a.) nicht
unerwartet von Mekka nach Medina kam. Jahrelang arbeiteten die
Medinenser (einschließlich der dort sesshaften jüdischen Stämme) daran,
Muhammad (s.a.) dazu zu bewegen, als Schlichter nach Medina zu kommen.
Warum als Schlichter? Medina war jahrzehntelang, wenn nicht
jahrhundertelang, Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen
Arabern und Arabern, Arabern und Juden, Juden und Juden, zwischen
Koalitionen von Arabern und Juden gegen andere Araber und Juden.
Letztendlich aber brachten die Kriege keine klaren Machtverhältnisse.
Die Sinnlosigkeit dieser Kriege war endlich allen Beteiligten klar
geworden. Durch ihre eigenen Erlebnisse bei der Teilnahme an den
jährlichen Geschäften in Mekka und auch durch Hörensagen wurden sie von
der großen Persönlichkeit Muhammads überzeugt. Im Grunde standen die
Juden in Medina Muhammad (s.a.) näher als die medinensischen Araber, die
Polytheisten waren.
Die Ankunft Muhammads in Medina war, vom monotheistischen Glauben her
gesehen, ein Gewinn für die Juden. Danach handelte Muhammad (s.a.)
auch. Direkt nach seiner Ankunft in Medina gründete er als erstes die
medinensische Gemeinschaft. Der dafür konzipierte Text ist noch
vorhanden. Man bezeichnet diesen als den medinensischen Vertrag. Dieser
Vertrag, der zum Teil später als Vorbild für die islamische
Staatsführung benutzt wurde, weist bezüglich der Juden interessante
Passagen auf. Demnach werden die Juden in Medina als wichtiger
Bestandteil der medinensischen Gemeinschaft anerkannt. Sie werden genau
wie die muslimischen Araber in Medina als Teil der Gemeinschaft
akzeptiert. Dort heißt es weiter, die Juden hätten ihrem Glauben
nachzugehen und die Muslime dem ihren. Das politische Element bei diesem
Vertrag war eine beiderseitige Verpflichtung: Die Muslime wurden
verpflichtet, die Juden zu unterstützen, falls diese von einem Feind
angegriffen würden. Umgekehrt wurden die Juden verpflichtet, die Muslime
im Angriffsfall zu unterstützen. Gerade dieses politische Element gab
Anlass zu Unstimmigkeiten, nachdem die Muslime von den Mekkanern
angegriffen worden waren und die Hilfe der Juden ausgeblieben war.
Nicht nur das: Die Geschichtsbücher, die über diese Ereignisse
berichten, beschuldigen sogar einige jüdische Stämme – nicht alle Juden –
den Mekkanern mit Informationen und Aktionen gegen ihre eigenen
muslimischen Verbündeten geholfen zu haben. Von Vertragsbruch und damit
verbundenen gewaltsamen Aktionen ist die Rede, von der Verbannung zweier
jüdischer Stämme aus Medina und von der Vernichtung eines dritten
jüdischen Stammes der Verbündeten, die gegen die Vereinbarung gehandelt
hatten, so die Berichterstattung. Eine endgültige Klärung der Lage und
eine überzeugende Schuldzuweisung ist historisch nicht leicht möglich.
Eines steht fest, und zwar, dass die Person Muhammad (s.a.) in Medina
keinen Anlass für die Entstehung der Auseinandersetzung zwischen Arabern
und Juden bot. Im Gegenteil: Er wurde in diese von alters her
unfriedliche und unangenehme Situation hineingezogen. Hätten die
mekkanischen Polytheisten die Muslime nicht angegriffen, hätte es keinen
Anlass für die Auseinandersetzungen zwischen den Muslimen und den Juden
gegeben. Höchstwahrscheinlich – so kann man weiterphantasieren – hätte
der Monotheismus endlich die beiden jahrhundertelang verfeindeten Völker
miteinander verbunden. Auch dafür gibt es im Koran Anzeichen.
1.6. Wie stand es um die Christen und die christlichen Minderheiten auf der arabischen Halbinsel?
Eingangs habe ich auf zwei große Stammesverbände von Christen in
Nord- und Südarabien hingewiesen, auch darauf, dass die Ghassaniden im
Norden in Verbindung mit Byzanz standen. Die Auswanderung der
muslimischen Gruppen 615 in das christliche Äthiopien und die
Schutzsuche beim dortigen christlichen Kaiser zeigt eine ausgeprägte
Sympathie für die Christen. Im Laufe der medinensischen Zeit bestanden
freundliche Beziehungen in Form von Delegationen zwischen Muhammad
(s.a.) und den Christen. Nur im Jahre 628, als Byzanz den Iran besiegte,
machten sich Zeichen eines geplanten Aufstandes der Ghassaniden gegen
die Muslime bemerkbar. Dies wurde nachweislich von den Byzantinern
angezettelt. Bis dahin hatten weder die Iraner noch die Byzantiner die
Entstehung einer dritten Macht auf der arabischen Halbinsel zur Kenntnis
genommen. Sie waren zu sehr miteinander beschäftigt. Nach Beendigung
der Kriege hat Byzanz als erste Macht auf den Islam reagiert. Die
Reaktion kam jedoch zu spät. Die Muslime waren so stark geworden, dass
sie in großer Zahl den Ghassaniden entgegenmarschieren konnten. Es kam
zu keiner nennenswerten kriegerischen Auseinandersetzung und zu einem
friedlichen Abschluss.
1.7. Das Resultat
Muhammad (s.a.) hat seine Einstellung gegenüber den Juden und
Christen als den Monotheisten nie aufgegeben oder geändert. Mit Ausnahme
der feindseligen Situationen, auf die ich hingewiesen habe, hat es nie
einen Grund gegeben, gegen die Juden und Christen aufgrund ihrer
jeweiligen Religion einen unfreundlichen Akt zu vollziehen. Er
differenziert wohl zwischen denjenigen Christen und Juden, die ihrer
Religion nachgehen, und denjenigen, die sich nicht nach den Vorschriften
der eigenen Religion richten. Bezeichnend ist für unser Thema und für
die konsequente Verhaltensweise Muhammads gegenüber den Monotheisten der
Koranvers, der zu den allerletzten Offenbarungsversen kurz vor dem Tode
Muhammads gehört. Trotz der verschiedenartigen Verhältnisse, die man im
Laufe der Zeit zwischen Muslimen, Juden und Christen verzeichnet hatte,
bestimmt Muhammad (s.a.) in den letzten Phasen seines Lebens und
Wirkens programmatisch die Verhaltensweisen der Muslime in ihrem
Verhältnis zu den Schriftbesitzern, den Monotheisten. Trotz offener
Kritik, die er im Laufe der Zeit an Glaubensinhalten und
Verhaltensweisen der Christen und Juden übte, macht er keinen Hehl
daraus, dass er diese eben wegen ihrer monotheistischen Religion
gesellschaftlich voll akzeptiert. Die volle gesellschaftliche
Anerkennung, die durch freie und ungehemmte familiäre Verbindungen
dokumentiert wird, gipfelt in dem Gebot einer Tisch- und Ehegemeinschaft
mit Juden und Christen. Es handelt sich um den Koranvers aus der Sure
al-Maida (5:5), wo es unter anderem heißt: „Heute sind euch die
köstlichen Dinge erlaubt. Die Speise derer, denen das Buch zugekommen
ist, ist euch erlaubt, und eure Speise ist ihnen erlaubt.“
Im Anschluss an dieses Angebot der Tischgemeinschaft heißt es weiter:
„Erlaubt sind auch die unter Schutz gestellten gläubigen Frauen und die
unter Schutz gestellten Frauen aus den Reihen derer, denen vor euch das
Buch zugekommen ist, wenn ihr ihnen ihren Lohn zukommen lasst und mit
ihnen in der Absicht lebt, (sie) unter Schutz zu stellen, nicht Unzucht
zu treiben und sie nicht als heimliche Konkubinen zu nehmen.“ Die
Tischgemeinschaft bedeutete dabei nicht den wechselseitigen Besuch von
jüdischen und muslimischen Speiselokalen. So etwas gab es nicht. Es
bedeutete vielmehr die Familienverbundenheit, orientiert am gemeinsamen
Essen und Trinken. Noch bedeutsamer ist dieses Gebot, wenn man die Größe
der Familienverbände in Betracht zieht. Wichtiger und bedeutsamer ist
in dieser Hinsicht die Ehegemeinschaft. Die Ehen wurden nicht – und
werden auch heute zum Teil noch nicht – nur zwischen zwei Personen
geschlossen. Die Ehe galt als Bündnis von zwei Großfamilien oder sogar
zwei großen Stämmen. Diese Angebote wären koranischerseits nie möglich
gewesen, wenn der Koran den Eingottglauben nicht als den eigentlichen
Inhalt der Religion schlechthin angesehen hätte.
- Toleranz im Verlauf der islamischen Geschichte
Die islamische Geschichte weist in Bezug auf Toleranz zwei völlig
gegensätzliche Züge auf. Es gibt nicht wenige Fälle und historische
Belege für die Fortsetzung der koranischen Haltung den Polytheisten und
Schriftbesitzern gegenüber. Es gibt aber auch viele Belege für
Intoleranz der Muslime, vor allem der muslimischen Herrscher. Die
Intoleranz bezog sich nicht nur auf die Polytheisten, die später Kriege
gegen die Hindus in Indien führten (11. Jh.). Die Intoleranz bezog sich
auch nicht nur auf die Monotheisten jüdischer, christlicher und
zoroastrischer Glaubensrichtung. Die Intoleranz fand vielmehr auch
innerhalb der muslimischen Gemeinschaft statt. Diese Intoleranz, die
meist in verheerenden, blutigen Kriegen gipfelte, verlief in der Regel
unter der Bezeichnung Dschihad, was man irrtümlicherweise mit „Heiliger
Krieg“ übersetzte. Von Herkunft und Anwendung im Koran her ist dieses
Wort Ausdruck eines positiven Wertes, nämlich „ernsthafter Einsatz für
eine gute Sache“. In diesem Sinne kommt dieses Wort in der mekkanischen
Zeit zweimal vor, einmal sogar mit dem Adjektiv „groß“, also „großer
Dschihad“.
Gemeint ist der große Einsatz Muhammads mithilfe des Koran für die
Verbreitung des Monotheismus unter den Polytheisten in Mekka. In der
medinensischen Zeit findet dieses Wort noch dazu eine Anwendung im
Zusammenhang mit dem Einsatz für die Verteidigung gegen die Angriffe der
Mekkaner. Im dem Zusammenhang heißt es, man solle den Dschihad mit dem
Leben und mit dem Eigentum führen. Das heißt, das Leben und das Vermögen
für den Eingottglauben einzusetzen und zu opfern. So beinhaltet das
Wort Dschihad nach der koranischen Anwendung weder Elemente des Krieges
noch eines Angriffes, weder in einem offensiven noch in einem defensiven
Krieg. Daher wird nach wie vor der Begriff Dschihad für den Einsatz für
eine gute Handlung im Alltag angewandt: Dschihad für die Beseitigung
des Analphabetentums, Dschihad für die Bekämpfung der Armut, Dschihad
für die Bekämpfung verbreiteter Krankheiten und auch allgemein Dschihad
gegen sich selbst, gegen Begierden, moralische Übertreibungen, um eine
gesunde, ausgeglichene moralische Haltung zu erreichen.
So gesehen, kann man in keiner Weise die Machtkämpfe, die im Laufe
der islamischen Geschichte seitens der Muslime gegeneinander oder gegen
Andersgläubige geführt wurden, als islamischen Akt bezeichnen. Islamisch
gesehen – und zwar laut Koran, wie wir gesehen haben – durfte kein
Krieg für die Ausbreitung und Verbreitung des Glaubens geführt werden.
Angesichts der Idee der Toleranz gegenüber den Polytheisten und der
Anerkennung der Monotheisten gibt es im Islam keine Basis für die
Legitimation von Glaubenskriegen. Dies verhält sich so, weil die
Notwendigkeit und die Idee einer Missionierung im Islam fehlt. Das
einzig Vorhandene in dieser Richtung ist die Darbietung und Darlegung
der Lehre. Dies ist die Art und Weise, wie Muhammad (s.a.) seine Lehre
verkündet hat. Der Koran untersagt Muhammad (s.a.) selbst,
missionarisch, das heißt im Sinn einer Bekehrung der Andersgläubigen zum
Islam tätig zu sein. An die Adresse Muhammads gerichtet heißt es in
Koran: „Du kannst die Leute, die du magst, nicht rechtleiten, nicht
bekehren. Es ist nur Gott, der die Rechtleitung bei den Leuten
verwirklicht.“ (Al-Qasas | 28:56) Es gibt daher in der islamischen
Theologie keine Fachrichtung für Missionarsausbildung und
Missionstätigkeit. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versucht man jedoch
hier und da in den islamischen Ländern, junge Gelehrte für Werbung (dawa
und tablighat) auszubilden, die jedoch die Grenze der reinen Darbietung
und friedlichen Erklärung nicht überschreiten darf. Umso weniger darf
es Missionskriege geben.
2.1. Wie stand es mit der Ausbreitung des Islam kurz nach dem Tode des Propheten?
Die Kriege gegen Byzanz und Iran gehören möglicherweise zu den
wenigen Auseinandersetzungen, die man politisch und historisch erklären
kann. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Wunsch und die
Sehnsucht der arabischen Volksstämme nach der Befreiung von der
langjährigen Kolonialherrschaft der rivalisierenden Mächte Byzanz und
Iran sehr stark gewesen ist. Dafür spricht nicht nur das Recht eines
Volkes auf seine Unabhängigkeit, sondern auch der Stolz der Bewohner der
arabischen Halbinsel. Dazu fehlte diesen zerstrittenen Stämmen eine
einigende Kraft. Erstmalig in der Geschichte Arabiens gewährte ihnen der
Islam diese Kraft. Die auf diese Weise vereinten arabischen Stämme
bildeten gegen Ende der zwanziger Jahre des 7. Jahrhunderts eine neue
Macht, deren Entwicklung von den beiden Großmächten weder wahrgenommen
noch verfolgt wurde. Es gibt auch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass
eine dritte rivalisierende Macht weder den Byzantinern noch den Iranern
recht war. Als die Byzantiner 628 über die Ghassaniden versuchten,
dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, war es für sie zu spät. Mit
einer massiven militärischen Mobilisierung hätten die Byzantiner als
absolute Herrscher über die damalige politische Bühne diese neue,
verhältnismäßig bescheidene, arabische Macht niederschlagen können.
Historisch gesehen, spricht auch vieles dafür, dass die Byzantiner sich
auf einen massiven Angriff nach dem Tode Muhammads vorbereitet hatten.
Es ist nun derselbe Feldherr, der 628 dem christlich-ghassanidischen
Aufstand entgegen marschierte, nämlich Khalid ibn Walid, der an der
Spitze eines großen Heeres in Richtung Damaskus marschierte. Seinen Sieg
verdankte er nicht nur der Entschlossenheit der Araber, die einen Kampf
um ihr Überleben führten, sondern zu einem großen Teil auch den
christlichen Gruppierungen und christlichen Sektierern, die genau wie
die Araber unter der byzantinischen Zentralmacht gelitten hatten.
Das gleiche galt damals für die Auseinandersetzung mit den Iranern,
die nach dem Sieg der Araber über die Byzantiner noch mehr Grund hatten,
das Ende ihrer eigenen Macht zu befürchten. Auch hierbei haben
bekanntlich viele unzufriedene Gruppierungen (unzufrieden mit der
Zentralmacht in Iran), ob Iraner oder Nichtiraner, Zoroastrier oder
Andersgläubige, zum Sieg der Araber über den Iran beigetragen. Dass der
Sieg über Byzanz und Iran die Verbreitung des Islam im Westen und Osten
zur Folge haben musste, ist eine historische Tatsache. Die Annahme des
monotheistischen Islam als eine die Monotheisten vereinende Religion
dürfte vielen nicht schwergefallen sein. Noch mehr müsste die soziale
Gerechtigkeit der neuen Religion die Masse fasziniert haben. Hätten
diese Kriege die Missionierung des Islam beziehungsweise die gewaltsame
Verbreitung der neuen Religion – ohne die genannten zwingenden
historischen und politischen Gründe – zum Ziel gehabt, so hätten sie
ganz und gar gegen die Haltung des Korans und Muhammads verstoßen, wie
bereits erörtert wurde.
Doch haben diese Kriege etwas zur Folge gehabt, was die Geschichte
des Islam bis heute bestimmt hat, nämlich die Entstehung einer neuen
Macht mit allen guten und üblen Folgen. Es waren die islamischen
Machthaber, die den Islam stets für ihre Zwecke instrumentalisiert
haben, wie dies auch bei den christlichen Machthabern überall an der
Tagesordnung war. Trotz dieses Machtmissbrauchs hat jedoch nicht selten
der tolerante Geist des Korans zu Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen,
Juden, Christen und Andersgläubigen geführt. Man pflegt hierfür die
Jahrhunderte in Bagdad und Qurtuba als Beispiele anzuführen, innerhalb
derer es den Anhängern verschiedener Religionen möglich wurde, im Osten
und später auch im Westen den Grundstein zweier großer Weltkulturen zu
legen. Es waren Muslime, Christen, Juden, Zoroastrier, Inder, Araber,
Assyrer, Iraner, Ägypter, die mit gezielter Übernahme der bis dahin
geltenden Wissenschaften und Philosophien sowie der Islamisierung des
hellenistischen Geistes und Modifizierung und Ergänzungen das
gigantische Gebäude der islamischen Wissenschaft, Kultur und
Zivilisation aufgebaut haben (8.—11. Jahrhundert).
Es waren ebenso Anhänger verschiedener Religionen, vor allem Muslime
und Juden von unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die die Übernahme
der islamischen bzw. islamisierten Wissenschaften und Philosophien in
der christlichen Welt ermöglichten, was im Abendland bis heute als
Beginn einer neuen wissenschaftlichen Ära deklariert wird. Diese in der
Geschichte der Menschheit einmaligen Zeugnisse der Gleichheit und
Gleichwertigkeit der Menschen hätten nie entstehen können, wenn es nicht
einen entsprechend toleranten politischen Rahmen dafür gegeben hätte;
eine tolerante Atmosphäre, wie sie vom Koran und von Muhammad
(s.a.) geprägt wurde, und wie sie während der oben genannten
Eroberung des byzantinischen Reiches in einem Vertrag des zweiten
Kalifen mit den Palästinensern festgehalten wurde. Dort heißt es: „Im
Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers: Dieser Vertrag gilt für
alle christlichen Gläubigen, Priester, Mönche und Nonnen. Er garantiert
ihnen Schutz, wo immer sie sich befinden. Derselbe Schutz wird der
christlichen Kirche, ihren Häuptern und Pilgerstätten zugesichert und
ebenso denen, die diese Stätten aufsuchen, Pilgern nach Palästina und
all denjenigen, die den Gesandten Jesus anerkennen. Diese alle verdienen
Rücksichtnahme, da sie zuvor durch eine Urkunde des Propheten Muhammad
(s.a.) geehrt worden sind.“
MRZ
2020